Man kann unendlich viel für seine
Gesundheit tun. Das hat aber
nicht viel, oft sogar gar nichts damit
zu tun, ob und in welchem
Maße man sich als gesund empfindet – und
Letzteres zählt.
Der Begriff „Gesundheit“ entzieht sich –
wenn man einmal von der platten Floskel
der Weltgesundheitsorganisation (WHO)
vom Zustand vollständigen Wohlbefindens
absieht – weitgehend einer Definition.
Schon die Frage nach ihr kann sie
beeinträchtigen oder zerstören, wie dies
für ähnlich sensible Gebilde wie
Vertrauen, Liebe, Gnade, aber auch zum
Beispiel für den Schlaf oder die
Sättigung gilt. Man kann unendlich viel
für seine Gesundheit tun; das hat aber
nicht viel, oft sogar gar nichts damit
zu tun, ob und in welchem Maß man sich
als gesund empfindet – und Letzteres
zählt. So kann das Paradox zustande
kommen: Je mehr ich für meine Gesundheit
tue, desto weniger gesund fühle ich
mich. In diesem Sinne ist Gesundheit
eben nicht machbar, nicht herstellbar,
stellt sich vielmehr selbst her.
Gesundheit gibt es nur als Zustand, in
dem der Mensch vergisst, dass er gesund
ist. Nach Hans-Georg Gadamer ist dies
der Zustand „selbstvergessenen ...
Weggegebenseins“ an den Anderen oder
„das Andere“ der privaten, beruflichen
und gesellschaftlichen Lebensvollzüge.
Vor diesem Hintergrund kommt man um die
ebenso logische wie bedrückende
Feststellung nicht herum, dass wir seit
etwa 200 Jahren mit zunehmender Wut
kategorial falsch mit Gesundheit umgehen
– mit katastrophalen Folgen für die
Entwicklung der Gesundheit als Mittel
der Vitalität. Denn seit wir uns mit der
Säkularisierung, der Aufklärung und der
Moderne vom metaphysischen Ballast aller
Transzendenz befreien (von der
Aristokratie und der Kirche bis zu Gott
und der Natur), alles andere nur noch
als Aneignungsobjekt wahrnehmen können,
haben wir zwar allen Anlass, uns über
den grandiosen Zugewinn an Freiheit,
Verfügbarkeit und Reichtum dieser
Eroberungsfeldzüge zu freuen, in denen
der Mensch sich zunehmend an die Stelle
der Natur, des Schicksals oder Gottes
stellt, gewinnen aber offenbar erst
allmählich ein Gespür für die
Nebenwirkungen dieses
Fortschrittsprozesses, wozu wir so etwas
wie eine „zweite Aufklärung“ (Hubert
Markl) bräuchten.
Dieses gilt nicht zuletzt für die
Gesundheit. Denn auch wenn der Sieg über
eine Krankheit oder ein
Präventionsprogramm objektiv und
messbar die Gesundheit fördert, kann
dennoch eine Gesundheitsverschlechterung
dabei herauskommen:
- wenn eine hypochondrische
Überaufmerksamkeit auf das Selbst das
Ergebnis ist;
- wenn wir Gesundheit für einen Stoff
halten, den man nicht als Gabe zu
empfangen hat, sondern sich aneignen und
immer mehr davon haben wollen kann;
- wenn wir denken, wir könnten
Gesundheit rational planen, herstellen,
machen;
- wenn wir Gesundheit aus einem Mittel
zum Leben zu einem Lebenszweck erheben
und sie so missbrauchen;
- wenn wir sie zum höchsten
gesellschaftlichen Wert verklären,
wodurch sie, die eigentlich auf
Verborgenheit angewiesen ist, vollends
verhindert wird;
- und wenn wir uns somit die
leidensfreie Gesundheitsgesellschaft zum
Ziel setzen, in der jeder Bürger das
Gesundheitssystem mit der Erwartung
verknüpft, ihm gegenüber ein
einklagbares Recht auf Gesundheit zu
haben.
Die Gesundheitsgesellschaft treibt der
Gesellschaft mit der Gesundheit die
Vitalität aus – und so lange wird es im
Vergleich mit anderen Gesellschaften
Wettbewerbsfähigkeit weder in Lebenslust
noch in Verantwortungsbereitschaft, noch
in wissenschaftlichen oder industriellen
Spitzenleistungen geben; und nur in
Kombination dieser drei Merkmale wäre
eine Gesellschaft vital und in diesem
Sinne auch gesund.
Für diese These werden im Folgenden
einige Belege beziehungsweise Hinweise
auf Einflussfaktoren genannt, die eine
Fülle bisher eher vernachlässigter
Forschungsthemen zumindest andeuten:
1. Mit zunehmender Wirksamkeit
schmerztherapeutischer Verfahren wird
die Zahl der Schmerzkranken nicht etwa
kleiner, sondern größer,
- weil gerade die Therapieerfolge die
Erwartung und den Rechtsanspruch auf
Herstellbarkeit von Schmerzfreiheit oder
Leidensfreiheit auslösen,
- weshalb Schmerzen schon bei immer
geringerer Intensität als unerträglich
erlebt werden und nicht mehr als
gesunde, normale Befindlichkeitsstörung;
- damit wird normale Schmerzempfindung
immer weniger als positiv wichtiges
Signal für Gefahren oder auch nur
Widerstände im Rahmen einer gesunden und
damit vitalen Lebensführung gewertet,
sondern nach der ideologischen „Ethik
des Heilens“ als Krankhaftes und damit
von anderen chemisch oder psychisch
Wegzumachendes aus dem eigenen
Kompetenzbereich ausgegrenzt.
- Während bisher stets der eigene Umgang
mit Störung, Schmerz oder Leiden die
Quelle jeglicher kreativer Leistung war,
droht jetzt die Verwechslung der nur
noch selbstbezogenen, unendlich
steigerungsfähigen Gesundheit mit der
unendlich steigerungsfähigen Schmerz-
und Leidensfreiheit.
- All dies wird noch in dem Maß
verstärkt, wie die Diagnostik und
Therapie des Schmerzes eigenständig
institutionalisiert werden und daraus
Eigeninteressen erwachsen.
2. Auf ähnliche Weise und mit
vergleichbaren katastrophalen Folgen
wird der Bereich des Gesunden auch bei
Befindlichkeitsstörungen immer mehr
verkleinert und damit seiner
motivierenden Stacheln beraubt. Der
Bereich des Krankhaften wird immer
weiter aufgebläht. Dafür nur wenige
Beispiele: Umgang mit Schlafstörungen,
Essstörungen, Angst,
Aufmerksamkeitsstörungen bei Kindern,
aber auch unerwünschte Kinderlosigkeit
oder Schönheitsmängel.
3. Diese gefährlichen, weil
devitalisierenden Verschiebungen vom
Gesunden zum Kranken werden zudem durch
etwas begünstigt, was man als
Top-down-Prinzip des Gesundheits- und
Sozialsystems in Praxis und Wissenschaft
bezeichnen kann: Eine wissenschaftliche
oder industrielle Innovation bei der
schweren Ausprägung einer Erkrankung ist
höchst segensreich; sie wird aber auch
des größeren Marktes wegen bei
geringerer Intensität derselben
Krankheit angewandt, obwohl dies
eigentlich nicht indiziert wäre (so zum
Beispiel das Antibiotikum bei leichter
Grippe). Wenn sie die Wahl haben,
beginnen Ärzte gern ihre Interventionen
der größeren und schnelleren
Erfolgswahrscheinlichkeit wegen bei
„leichteren Fällen“.
4. Die Zahl der an einem Patienten
vorgenommenen Untersuchungen entscheidet
über die Wahrscheinlichkeit, ob er zum
Schluss eine Diagnose haben wird, also
ob er zu den Gesunden oder zu den
Kranken zu rechnen ist. In diesem
Bereich eröffnen die fahrlässigerweise
immer noch nicht gesetzlich geregelten,
prädiktiven Gentests eine neue
Dimension: Sie bescheren uns eine neue
Bevölkerungsgruppe, nämlich die der
„noch nicht Kranken“, die das
selbstvergessene Weggegebensein vitaler
Gesundheit kaum noch leben können.
5. Bereits dem 19. Jahrhundert verdankt
eine andere, freilich ebenfalls heute
noch wirksame Strategie der
Leidensvermeidung ihre Entstehung: Um
nämlich die Familien der damals erstmals
wichtig werdenden Vollbeschäftigung
zuführen zu können, mussten sie von der
Sorge für ihre Pflegebedürftigen und
Behinderten befreit werden. So
entstanden flächendeckende Netze
sozialer Institutionen für geistig
Behinderte, Körperbehinderte, psychisch
Kranke. So unsichtbar gemacht, gehörten
die Behinderten und die Verantwortung
für sie nicht mehr zur als gesund
empfundenen, normalen Lebenswelt.
Stattdessen konnte sich – mangels
Erfahrung – die Angst vor dem
Behinderten erst richtig entwickeln.
Trotz ambulanter Alternativen nimmt die Zahl der Heimbewohner immer
mehr zu. Foto: BilderBox
6. Ähnlich steht es mit den Alten und
Altersverwirrten. Zwar haben diese sich
dank des medizinischen Fortschritts erst
im Laufe des 20. Jahrhunderts zu einer
nennenswerten Bevölkerungsgruppe
vervielfacht, manche sagen epidemisch
inflationiert. Der Pflegebedarf hat sich
im Laufe dieses Jahrhunderts
verhundertfacht. Noch wichtiger dürfte
aber sein, dass man um 1900 noch aus dem
Krankenhaus zum Sterben nach Hause ging,
wohingegen man heute in der Regel im
Krankenhaus oder im Heim stirbt. Da man
zudem heute nicht mehr in jedem
Lebensalter gleich wahrscheinlich,
sondern fast nur noch im Alter stirbt,
gilt auch hier: Sterben und Tod sind
institutionell unsichtbar geworden,
gehören nicht mehr zur als normal und
gesund erlebten Lebenswelt. Dadurch
konnte mangels sinnlich anschaulicher
Erfahrung die Angst vor dem Sterben und
dem Tod inflationär und irreal zunehmen
– mit allen fatalen Folgen für die
Vitalität, wie etwa der Wunsch nach
aktiver Sterbehilfe oder die mangelhafte
Fähigkeit der Bürger, ihr Leben von
ihrem Tod her zu begreifen und den
jeweiligen Augenblick als kostbar
kreativ zu nutzen. !
7. Die devitalisierenden Nebenwirkungen
des medizinischen Fortschritts bei der
therapeutischen Beherrschbarkeit vieler
Akuterkrankungen bestehen darin, dass
viele von denen, die früher daran
gestorben wären, heute weiterleben,
jedoch in der mengenmäßig neuen
menschlichen Daseinsform des chronisch
Krankseins: heute schon 40 Prozent der
ärztlichen Klientel, die 75 Prozent der
Kosten ausmachen – Tendenz steigend,
sodass chronisch Kranke bald den
ärztlichen Normalfall darstellen werden.
Aber die Medizin stülpt immer noch zu
sehr ihr gewohntes Akutkranken-Schema
den chronisch Kranken in Behandlung,
Lehre und Forschung über, wie zuletzt
mit den zusätzlich stigmatisierenden
Disease-Management-Programmen (DMP)
noch einmal unter Beweis gestellt. Die
Etablierung einer eigenständigen
Chronisch-Kranken-Medizin dürfte eine
der wichtigsten Forderungen für ein
zukunftsfähiges Gesundheitswesen sein.
Hier geht es nicht so sehr um die
Bekämpfung von Krankheiten, sondern um
die biografische Begleitung von
beeinträchtigten Menschen, weshalb Ärzte
auch weniger ein
Disease-Management-Programm brauchen,
sondern vielmehr bezahlte Zeit.
8. All die beschriebenen Trends, die
subjektiv Gesundheit fördern wollen, in
Wirklichkeit aber der Gesellschaft die
Vitalität austreiben, wirken sich
zusätzlich umso destruktiver aus, je
mehr sie der Vermarktung und dem
Wettbewerb überlassen werden. Diese
Prinzipien sind in der übrigen
Wirtschaft segensreich, im Sozialbereich
und damit im Gesundheitswesen jedoch
(vielleicht von Teilbereichen abgesehen)
tödlich.
- Wenn Gesundheit zur Dienstleistung und
damit zur Ware wird,
- wenn jede medizinische Einrichtung zu
Gewinnmaximierung durch
Leistungsexpansion verurteilt ist,
- wenn Wettbewerb zwar kurzfristig
Kosten senken kann, was jedoch durch
Mengenausweitung mehr als kompensiert
wird
– dann muss man sich nicht wundern,
- dass schließlich künstlich Bedürfnisse
erfunden werden, die man als
Wunscherfüllung für den Kunden zu
befriedigen verspricht,
- dass auch sachlich nicht notwendige
Spezialisierungen entstehen,
- dass noch unreife Produkte und
Verfahren auf den Markt geworfen werden
und
- dass die Tendenz vorhanden ist, gute
Kunden lebenslang zu halten und zu
„melken“, schlechte Kunden aber an die
Konkurrenz weiterzureichen.
Gleichzeitig wird verzweifelt versucht,
die der unsichtbaren Hand des Marktes
verdankte Kostenexplosion durch
exzessive bürokratische Fremdkontrollen
einzudämmen, zum Beispiel durch
Qualitätsmanagement, Leitlinien,
Fallpauschalen, DMP. Auf diese Zwänge
versuchen Ärzte etwa durch
defensivmedizinische Absicherung oder
durch Verschiebung ihrer Verantwortung
auf den
Patienten unter Berufung auf sein
Selbstbestimmungsrecht und seine
Kundenwünsche zu reagieren. Wenn der
aktuelle Ärztemangel strukturell
insofern neu ist, als sich die
Medizinstudenten nach dem Examen
beruflich anderweitig orientieren, mag
das auch mit Arbeitszeit und Geld
zusammenhängen; entscheidender ist
jedoch die Doppelzange aus Markt und
Bürokratie, die die Lust und die
Verantwortlichkeit der ärztlichen
Tätigkeit abwürgt.
9. Die kostentreibende Übermacht des
Marktes selbst über den Gesetzgeber
macht das alle einschlägigen Gesetze
dominierende Prinzip „ambulant vor
stationär“ zur Lachnummer; denn während
ambulante Hilfsangebote mit Nachteilen
bestraft werden, locken die größeren
Profite und Wettbewerbsvorteile im
stationär-institutionellen Bereich, der
sich zusätzlich rechtfertigt durch die
ausgrenzende Entlastung der Gesellschaft
von allem Negativen. Drei Beispiele:
Krankenhaus: Auch noch die jüngsten
Spezialisierungen (Psychosomatik,
Geriatrie) sind überwiegend in Form
stationärer Systeme erfolgt, obwohl
ambulante Liaison- und Konsiliardienste
für alle Beteiligten gesünder wären.
Heime: Obwohl es für alle
Heimaufnahme-Indikationen erprobte
ambulante Alternativen gibt, sind jetzt
schon mit steigender Tendenz mehr als
eine Million Bundesbürger Heimbewohner,
den Gesetzen der Massenhaltung
unterworfen. Mehr als 95 Prozent der
Sozialhilfeleistungen fließen in den
stationären Bereich.
Rehabilitation: Deutschland hat etwa so
viele Betten in psychosomatischen
Rehabilitations- und Kurkliniken wie der
Rest der Welt, der unser Jammern über
Geldknappheit nicht versteht, solange
wir uns diesen – von Bismarck zur
sozialen Befriedung geförderten –
Zauberberg-Sumpfblüten-Zopf noch
leisten. Dieser garantiert mehr Schaden
als Nutzen, statt die Rehabilitation
konsequent dorthin zu „ambulantisieren“,
wo die Menschen leben. Aber wo die
unsichtbare Hand des Marktes regiert,
darf niemand so recht steuern, maßt sich
daher auch niemand die Autorität der
Verantwortung an, egal wie katastrophal
das Ergebnis für die Gesundheit ist.
10. Seit Rechtsanwälte, Psychologen,
Pädagogen und Sozialarbeiter von der
gesetzlichen Betreuung (vormals
Vormundschaft) leben können, hat sich in
wenigen Jahren die Zahl der Betreuten
auf etwa eine Million mehr als
verdoppelt. Der neue und dynamische
Berufsverband will natürlich weiter
expandieren, hält daher sechs Millionen
Bundesbürger für betreuungsbedürftig.
Deshalb kann es nicht verwundern, dass
man von der vornehmsten gesetzlichen
Aufgabe der Betreuer, nämlich
Betreuungen überflüssig zu machen, fast
nichts spürt.
11. Der Wettbewerb zwingt zur
Erschließung neuer Märkte. Das Ziel muss
die Umwandlung aller Gesunden in Kranke
sein, also in Menschen, die sich
möglichst lebenslang sowohl
chemisch-physikalisch als auch psychisch
für von Experten therapeutisch,
rehabilitativ und präventiv
manipulierungsbedürftig halten, um
„gesund leben“ zu können. Das gelingt im
Bereich der körperlichen Erkrankungen
schon recht gut, im Bereich der
psychischen Störungen aber noch besser,
zumal es keinen Mangel an Theorien gibt,
nach denen fast alle Menschen nicht
gesund sind. Fragwürdig ist die analoge
Übertragung des Krankheitsbegriffs vom
Körperlichen auf das Psychische. Einige
Beispiele:
a) Das Sinnesorgan Angst, zuständig für
die Signalisierung noch unklarer
Bedrohungen, ist zwar unangenehm, jedoch
vital notwendig und daher kerngesund;
nur am falschen Umgang mit Angst (zum
Beispiel Abwehr, Verdrängung) kann man
erkranken. In den 70er- und 80er-Jahren
jedoch hat man die Angst als Marktnische
erkannt und etliche neue, selbstständige
Krankheitseinheiten konstruiert – mit
vielen wunderbaren Heilungsmöglichkeiten
für die dafür dankbaren Patienten.
b) Seit den 90er-Jahren ist die
Depression weltweit als unzureichend
vermarktet erkannt. Eine Art
Rasterfahndung nach unentdeckten
Depressiven, wovon immer einige Menschen
real profitieren, die meisten jedoch
durch zusätzliche Etikettierung in ihrer
Vitalität Schaden nehmen, hat zum
Beispiel in den USA dazu geführt, dass
sich von 1987 bis 1997 die Zahl der
wegen Depression Behandelten von 1,7 auf
6,3 Millionen fast vervierfacht hat;
entscheidend dafür war die suggestive
Aufklärungskampagne und aggressive
Werbung für Antidepressiva.
c) Inzwischen hat die
Psychotrauma-Therapie den
imperialistischen Anspruch, möglichst
alle Krisen durch Traumatisierung
(früheres Gewalterlebnis, Missbrauch,
Misshandlung) zu erklären und zu
therapieren. Auch hiervon können wenige
profitieren, während die Allgemeinheit
durch potenziell lebenslängliche
punktuelle Aufmerksamkeitsfixierung
geschädigt wird; selbstvergessenes
Weggegebensein ist jetzt sehr erschwert.
Bei jeder Katastrophe sind heute Opfer
wie Helfer den öffentlichkeitswirksamen
oder verstehenswütigen Psychoattacken
fast zwangsweise, weil wehrlos
ausgesetzt. Nach dem Erfurter Amoklauf
blieb einer Schülerin die Äußerung
vorbehalten, das Schrecklichste seien
eigentlich die Psychologen gewesen, die
das Alleinsein mit sich selbst und/oder
mit Freunden/Angehörigen mit den
raffiniertesten Tricks zu verhindern
versucht hätten. Dies öffentlich zu
sagen bedeutet heute Mut, Zivilcourage.
d) Ein Selbstversuch, den jeder
wiederholen kann: Ich habe zwei Jahre
lang aus zwei überregionalen Zeitungen
alle Berichte über Forschungen zur
Häufigkeit psychischer Störungen (zum
Beispiel Angst, Depression, Essstörung,
Süchte, Schlaflosigkeit, Traumata)
gesammelt: Die Addition der Zahlen
ergab, dass jeder Bundesbürger mehrfach
behandlungsbedürftig ist. Die meist von
bekannten Professoren stammenden
Berichte versuchten in der Regel, dem
Leser zunächst ein Erschrecken über den
hohen Prozentsatz der jeweiligen
Einzelstörungen zu suggerieren, um ihn
dann wieder zu entlasten, weil es heute
dagegen die zauberhaftesten Heilmethoden
gäbe, fast immer in der Kombination von
Psychopharmaka und Psychotherapie; denn
hier verspricht die Kooperation der
Konkurrenten den größten Gewinn.
Fitness und Wellness – das Leben
wird prozessualisiert als
Vitalisierung ohne Ende.
Foto: DAK
12. Der künftig expansivste Markt dürfte
der der
Prävention sein – von den
Experten der gesunden Ernährung über das
Jogging bis zu den Fitness- und
Wellness-Zentren, Agenturen, die das
Leben der Menschen mit wechselnden
Schwerpunkten begleiten und mit deren
Hilfe sie ihre Gesundheit infinitesimal
optimieren, in „Gesundheits-Bewusste“
umerzogen werden sollen. Das Leben wird
prozessualisiert als Vitalisierung ohne
Ende, wobei nur eins zu vermeiden ist:
dass ein Mensch sich zu einem bestimmten
Zeitpunkt wirklich für vital hält. Dabei
ist auch dieses Angebot, wieder von
segensreichen Ausnahmen abgesehen,
bestenfalls folgenlos, da von außen
kommende Mittel ohne
Sozialisierungsarbeit, also ohne die
anstrengende integrierende Übersetzung
in die biografische Alltags-Lebenswelt,
dem Leben äußerlich bleiben.
Diese Beispiele führen zu der Annahme,
dass das Gesundheitssystem insgesamt
eher wie eine
Vitalitätsvernichtungsmaschine wirkt –
und dies marktbedingt mit expansiver
Tendenz, sind doch heute schon 4,2
Millionen Menschen im Gesundheitssystem
beschäftigt und damit, ohne es zu
wollen, an der Steigerung dieser Wirkung
interessiert. Es dürfte sich zumindest
lohnen, die Stimmigkeit der vorstehenden
zwölf Belegkomplexe und insbesondere
ihrer Wechselbeziehungen durch
Forschungsprojekte zu überprüfen, auch
wenn ihnen jetzt schon viele
wissenschaftliche Expertisen zugrunde
liegen.
Ständige Ausbalancierung
Abschließend wenigstens eine
Schlussfolgerung: Auf dem Weg zu einer
vitalen Gesellschaft müsste „gesund
leben“ heute nicht mehr nur – wie früher
– die einseitige Entlastung von Lasten
bedeuten, sondern vielmehr die ständige
Ausbalancierung des menschengemäßen
Gleichgewichts zwischen Entlastung und
Belastung im Sinne des
Spannungszustandes zwischen Selbstgenuss
und selbstvergessenem Weggegebensein an
Anderes. Entlastung ist eben nicht zu
maximieren, sondern nun zu optimieren –
physisch wie sozial-moralisch. Das heißt
konkret, dass wir uns künftig zwar
weiterhin über Schritte der Entlastung
freuen dürfen, aber auch für Schritte
der Wiederbelastung zu sorgen haben. Es
scheint so, als stünden die Medizin und
das Gesundheitswesen nunmehr vor dem
Paradigmenwechsel, der in der Physik vor
100 Jahren erfolgte, als man zu der
Erkenntnis kam, dass Newtons Physik zwar
nicht falsch sei, jedoch nur unter
vereinfachten Sonderbedingungen gelte,
wohingegen in der Sichtweise der
Quantenphysik sich die Wirklichkeit als
wesentlich umfangreicher,
mehrdimensionaler und komplexer
darstellt. Oder um es in einem Bild
auszudrücken: Damit ein Schiff oder ein
Fesselballon optimal freie Fahrt machen
kann, muss auch der Ballast stimmen;
gerade im Interesse der Befreiung von
der Natur ist die Verankerung in der
Natur von Bedeutung.
Wenn der durch Entlastungshilfen der
Medizin, der Technik und Industrie
eingeschränkte körperliche Bewegungsraum
zur Muskelatrophie mit den Folgeschäden
der Zivilisationskrankheiten (vom
Diabetes bis zu den
Herz-Kreislauf-Erkrankungen) führt, muss
man die Grenzen, innerhalb derer man
sich von der Last körperlicher Tätigkeit
nicht entlasten lässt, verteidigen oder
wieder hinausschieben. Allmählich
scheint das Problembewusstsein dafür
wieder zu wachsen: An einem Bahnhof kann
man zum Beispiel beobachten, wie fast
alle Menschen mit nur noch fahrbaren
Köfferchen die Rolltreppe hinaufstehen,
aber zehn Prozent benutzen die normale
Treppe. Fragt man diese nach ihrem
Motiv, so lautet die häufigste Antwort:
„Ich bin doch nicht blöd, ich lasse mich
doch nicht noch von meinen letzten
Selbstbewegungsmöglichkeiten enteignen.“
Die Verteidigung oder Hinausschiebung
der Grenzen der eigenen Verfügbarkeit
und damit der Freiheit gegenüber
helfend-entlastenden Zugriffen betrifft
aber auch einen Grundbestand von
Schmerzen und Leiden (als Voraussetzung
personaler Reifung) sowie der Angst und
anderer Gemeinsinne. Überhaupt hat jeder
sich sein Recht auf Krisen,
Grenzsituationen und andere Lasten wie
Behinderung, Krankheit, Altern, Sterben
und Tod als ihm zugehörig zu sichern,
soll das Leben wirklich erfahren, soll
Gesundheit Vitalität sein und sollen
Widrigkeiten biografisch genutzt werden.
Das gilt auch für Katastrophenopfer.
Hier meint Bert Hellinger mit Recht:
„Wer ein wirklich schweres Schicksal
hat, ist in der Regel stark genug, es zu
tragen.“ Therapeuten, die ohnehin nur
die zweitbeste Ersatzlösung bieten
können, haben sich auf die Ausnahmen von
der Regel zu beschränken.
zZitierweise dieses Beitrags:
Dtsch Arztebl 2002; 99: A 2462–2466
[Heft 38]
Anschrift des Verfassers:
Prof. Dr. med. Dr. phil. Klaus Dörner
Nissenstraße 3, 20251 Hamburg
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